Samstag, 22. Dezember 2018

Morituri te salutant*

Auch in Zeiten von E-Mails und WhatsApp gibt es noch Menschen, die Weihnachtsgrüße mit der Post verschicken. Gabi Uhl, Studienrätin für katholische Religionslehre aus Taunusstein, gehört dazu. Aber nicht, weil sie besonders traditionell wäre oder eine Weihnachtskarte für persönlicher als eine elektronische Kurznachricht hielte. Sondern weil ein Teil der Empfänger ihrer Grüße und Wünsche zum Fest der Menschwerdung Gottes von sämtlichen modernen Kommunikationsmitteln abgeschnitten ist: sie sitzen nämlich in den Todestrakten amerikanischer Gefängnisse.

Seit mehr als zwei Jahrzehnten engagiert sich Gabi Uhl, unter anderem in der "Initiative gegen die Todesstrafe", nicht nur für eine Ächtung und Abschaffung dieser schwersten denkbaren staatlichen Sanktion. Fast genauso lange hält sie auch Brieffreundschaften zu Straftätern, von denen die Judikative meinte, dass nur ihr eigener Tod die gerechte Sühne für begangenes Unrecht und das einzig wirksame Mittel zum Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Gewalttaten sei.

Gegen die Todesstrafe zu sein, ist für einen Westeuropäer weder besonders noch schwer. Sich auf straffällig gewordene Menschen einzulassen und sich für sie zu engagieren, schon eher. Nur wenige wissen, dass der Perspektivwechsel e.V. – 1868 als Frankfurter Gefängnisverein gegründet – im Gemeindegebiet von St. Bernhard (übrigens gar nicht weit von unserer Kirche entfernt) eine Wohnung unterhält, in der Strafgefangene, die bereits Vollzugslockerungen erhalten, Urlaub aus der Haft verbringen können.

Aber "Freundschaften" zu Mördern und Gewaltverbrechern halten? Als wir zum ersten Mal von Gabi Uhls Engagement lasen, erschien uns das irgendwie befremdlich und irgendwie auch gruselig. Auch mancher Christ aus unserem sozialen Umfeld tat sich mit der Vorstellung schwer. Trotzdem waren wir neugierig, weil wir ahnten, dass das Thema erheblich vielschichtiger ist, als es auf den ersten Blick schien. Und dass es uns in Grenzbereiche führen könnte, in denen die konsequente Umsetzung christlicher Werte und Gebote schmerzhaft wird. Wie vielschichtig, wurde uns Anfang Dezember 2018 bewusst. In der Mauritius-Mediathek in Wiesbaden fand – in Zusammenarbeit mit der örtlichen Gruppe von Amnesty International – eine Lesung aus dem Buch "Life on Death Row – Leben im Todestrakt" statt, in dem Briefe, Gedichte und Kurzgeschichten von "Todeskandidaten" aus den ganzen USA gesammelt sind. Herausgeberin: Gabi Uhl.

Wir hatten Worte von verbitterten Menschen erwartet, die mit ihrer Situation hadern, die sich über Haftbedingungen beklagen, die mit unserem Verständnis von Menschenwürde unvereinbar sind, und die auf eine Neuauflage ihrer Prozesse oder zumindest darauf warten, dass das gegen sie verhängte Todesurteil nicht (so schnell) vollstreckt wird. Zu hören bekamen wir Gedanken, die man ohne Übertreibung als meditativ beschreiben kann; Schilderungen von Beobachtungen, die wir alle machen (Sonnenaufgänge, blühende Bäume), aber nicht – und schon gar nicht mit dieser Sinnesschärfe – wahrnehmen, weil sie für uns nichts Besonderes mehr sind; Zeilen von Menschen, die sich nicht brechen lassen und die willens sind, ihren letzten Gang aufrecht zu gehen. Und Emotionen, die in krassem Gegensatz zu den Taten derer stehen, die sie zu Papier gebracht haben. So beschreibt ein Gefangener, der zwei Menschen mit einem Beil getötet hat, fast zärtlich, wie er sich um eine Spinne – Charlotte – sorgt, die ihr Nest gerade in seiner Zelle gespannt hat. (Ja, uns ist bewusst, dass es Menschen gibt, die zu Tieren gut und zu ihren Mitmenschen grausam sind; aber auch das zeigt die Vielschichtigkeit der menschlichen Existenz.)

Am Rande der Lesung (wer Interesse hat: die nächste findet am 18. Januar 2019, um 20:00 Uhr, im Hessischen Staatstheater Wiesbaden statt) und in der Zeit danach hatten wir Gelegenheit, Gabi Uhl kennenzulernen und uns mit ihr über die Todesstrafe sowie über Schuld, Vergebung und Freundschaft auszutauschen:

Redaktion: Es hat bis zu diesem Sommer gedauert, bis sich die katholische Kirche ohne Wenn und Aber gegen die Todesstrafe ausgesprochen hat. In Nr. 2267 unseres Katechismus lehrt die Kirche nun, dass "die Todesstrafe unzulässig ist, weil sie gegen die Unantastbarkeit und Würde der Person verstößt". Dass die Todesstrafe gegen die Menschenwürde und das Recht auf Leben verstößt, wurde vom Parlamentarischen Rat bereits im Frühjahr 1949 erkannt, was letztlich in Art. 102 des Grundgesetzes zur verfassungsrechtlich abgesicherten Abschaffung der Todesstrafe führte. Waren weltliche Autoritäten unserer Kirche um fast sieben Jahrzehnte voraus?

Gabi UhlGabi Uhl: Die katholische Kirche ist sicher generell dafür bekannt, eher konservativ als besonders fortschrittlich zu sein – was ich an dieser Stelle gar nicht wertend, sondern nur feststellend meine. So gesehen, war die Bundesrepublik Deutschland der katholischen Kirche hinsichtlich der klaren Abschaffung der Todesstrafe offenbar voraus. Und dennoch würde ich es nicht pauschal verallgemeinern wollen. Denn auch wenn sich die Kirche laut Katechismus erst 2018 von der Todesstrafe ganz verabschiedet hat, wurde sie im Vatikan auf politischer Ebene bereits 1969 abgeschafft; viele Staaten weltweit folgten erst später und waren nicht so früh wie die BRD, die diesen Schritt vor allem unter dem Eindruck des massiven Missbrauchs der Todesstrafe in der Nazi-Zeit zeitnah zu dieser vollzogen hat. Und selbst in der katholischen Kirche ist dieser letzte konsequente Schritt nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis einer langjährigen Entwicklung, die bereits deutlich in diese Richtung ging.

Redaktion: Insbesondere in den USA, zu denen Sie eine besondere Beziehung haben, gibt es immer noch eine stabile Mehrheit für die Todesstrafe und ihre Vollstreckung. Zugleich spielt Religion im öffentlichen Leben der USA eine weitaus stärkere Rolle als hierzulande. So argumentieren Abtreibungsgegner mit dem fünften Gebot und damit, dass jedes Leben heilig sei. Geht es dagegen um die Todesstrafe, scheint man eher dem Grundsatz "Auge um Auge" zugeneigt zu sein und von Vergebung und Feindesliebe nichts zu halten. Wie erklären Sie sich diese Widersprüche?

Gabi Uhl: In den USA haben Mitte der 1990er Jahre rund 80 Prozent der Bevölkerung die Todesstrafe unterstützt. Das hat sich deutlich verändert – die Zustimmung ist auf etwa 55 Prozent gesunken. Wobei die Befürwortung der Todesstrafe tatsächlich im sogenannten "Bible Belt" in den Südstaaten der USA eher höher ist. Man beruft sich auf die Bibel und ist dort stärker vom Alten Testament geprägt, sieht "Auge um Auge" nicht als Begrenzung eskalierender Blutrache, sondern gerne als Aufforderung an, und argumentiert auf diese Weise auf vermeintlich christlichem Boden. Die neutestamentliche christliche Botschaft von Vergebung und zweiter Chance vermisse ich da in der Tat häufiger. Und was die – zum Teil geradezu militanten – Abtreibungsgegner betrifft: Dieser scheinbare Widerspruch wird in der Regel damit erklärt, dass es sich bei dem als heilig geltenden und schützenswerten Leben in Form eines ungeborenen Kindes um unschuldiges Leben handelt. Ein Mensch, der schuldig geworden ist – dessen Leben gilt zumindest den Befürwortern der Todesstrafe oftmals nicht mehr als heilig.

Redaktion: Die meisten Todesstrafenfälle landen in den USA früher oder später beim Supreme Court, dem Obersten Gerichtshof. Nach der Bestätigung von Brett Kavanaugh zum beisitzenden Richter sind fünf von neun Richtern des Supreme Court Katholiken – und damit unserem Katechismus unterworfen, der die Todesstrafe für unzulässig erklärt. Gehen Sie davon aus, dass diese katholische Mehrheit zu einer Änderung der Rechtsprechung und dazu führen könnte, dass die Todesstrafe in den USA insgesamt für unzulässig erklärt wird?

Gabi Uhl: Ich fürchte, damit ist in nächster Zeit kaum zu rechnen. Denn eine Mehrheit von fünf der neun Richter gehört den Republikanern an, und bei diesen liegt die Zustimmung zur Todesstrafe immer noch zwischen 70 und 80 Prozent – unabhängig von ihrer religiösen Heimat. Ein signifikantes Beispiel ist der 2016 verstorbene Richter des US Supreme Court, Antonin Scalia: Er war ein vehementer Verfechter der Todesstrafe und Hardliner auf diesem Gebiet – und Katholik, allerdings einer stärker konservativ geprägten katholischen Richtung. Hinsichtlich der Todesstrafe nicht der Haltung der katholischen Kirche zu folgen, wurde dann damit begründet, dass es sich nicht um eine unfehlbare Lehrentscheidung handele und deshalb legitim sei, auch als Katholik nach entsprechender Auseinandersetzung hier eine andere Auffassung zu vertreten. Eine solche Position gegenüber kirchlichen Lehraussagen halte ich im Grundsatz durchaus für richtig, frage mich aber, ob es den Befürwortern der Todesstrafe unter den Katholiken tatsächlich um eine echte Gewissensentscheidung geht – oder ob es nicht schlicht bequemer ist, so bei seiner eigenen Meinung bleiben zu können.

Redaktion: Einzelne Bundesstaaten teilen den Verurteilten ihren Hinrichtungstermin wohl gar nicht mit, andere, wie beispielsweise Ohio, planen über mehrere Jahre im Voraus. Was macht es mit Menschen, wenn Sie bei jedem Klacken einer Tür damit rechnen müssen, ihren letzten Gang antreten zu müssen – und was, wenn sie der verbleibenden Zeit dabei zuschauen können, wie sie verrinnt? Und welche Verfahrensweise halten Sie – ungeachtet der uns einenden grundsätzlichen Ablehnung der Todesstrafe – für "humaner": das schnelle Ende mit Schrecken oder das bewusste, aber auch quälend lange Zugehen auf den sicheren Tod?

Gabi Uhl: In den USA sind die Hinrichtungstermine grundsätzlich vorher bekannt, allerdings ist der Zeitraum sehr verschieden. Ohio hat tatsächlich bereits Exekutionstermine bis 2023 festgelegt, während aus Florida immer wieder Termine bekannt werden, die nur rund drei Wochen entfernt liegen. Es gibt allerdings auch Staaten in der Welt, in denen der zum Tod Verurteilte erst am Morgen des bewussten Tages von seiner Hinrichtung erfährt – das ist beispielsweise in Japan der Fall. In dem Fall lebt der Gefangene ständig in dem Bewusstsein, dass der kommende Tag sein letzter sein könnte. Was das psychisch mit einem Menschen macht, vermag ich mir kaum auszumalen. Aber auch das Wissen um den genauen Zeitpunkt des eigenen Todes und zu sehen, wie die Zeit immer mehr zusammenschmilzt, ist eine gruselige Vorstellung. Ich persönlich würde wohl das Wissen um einen Zeitpunkt in der Zukunft vorziehen, weil es einem die Möglichkeit der Vorbereitung gibt.

Redaktion: Sich gegen die Todesstrafe zu engagieren ist das eine – sich aktiv auf Todeskandidaten einzulassen und zu ihnen eine persönliche Beziehung aufzubauen etwas anderes. Wie kam es dazu?

Gabi Uhl: Bei mir hat es im Grunde mit dem Kontakt zu einem Todestraktinsassen begonnen. Ich habe zunächst lediglich eine Freundin nach Texas begleitet, als diese ihren Brieffreund Clifford Boggess besuchen wollte. Nach diesen Besuchen fing ich selbst an Cliff zu schreiben und daraus entwickelte sich in kurzer Zeit eine intensive Freundschaft, die ein halbes Jahr später ihr Ende fand, als er durch den US-Bundesstaat Texas hingerichtet wurde.

Redaktion: Wie gehen Sie persönlich damit um, wenn eine über längere Zeit aufgebaute Freundschaft durch die Hinrichtung ihr Ende findet? Ist es für Sie dasselbe, wie einen Menschen nach langer Krankheit oder durch einen Unfall zu verlieren?

Gabi Uhl: Ja und nein. Im Sinne des Abschieds von einem Menschen, der einem etwas bedeutet, kann man dies sicher vergleichen. Allerdings schwingt hier noch das deprimierende Gefühl mit, dass der Tod des Menschen, der hingerichtet wird, in meinen Augen einfach so unnötig ist. Es ist immer wieder eine innere Leere, eine Abwesenheit jeglicher Gefühle, die ich in solch einer Situation erlebe, ein Wie-betäubt-sein, das erst langsam weicht und der Trauer Raum gibt.

Redaktion: Wie wirkt es sich auf Sie und auf die Brieffreundschaft aus, wenn einer Ihrer Brieffreunde seinen Hinrichtungstermin mitgeteilt bekommt? Wird der Kontakt dann intensiver, nutzt man die verbleibende Zeit bewusster, weil man weiß, dass sie zur Neige geht? Oder ist das auch immer ein Wechselbad zwischen Hoffen und Bangen?

Gabi Uhl: Für mich war tatsächlich der Moment, den Hinrichtungstermin zu erfahren, mehrfach der schockierendste. Es hat so etwas von Endgültigkeit und dem Wissen, jetzt wird es wirklich ernst, und etwas Unausweichliches. In der Tat sind die Verbindungen von meiner Seite aus in der Situation intensiver geworden, indem ich mehr Briefe geschrieben habe. Ich habe die verbleibende Zeit als kostbarer erlebt. Ein Wechselbad der Gefühle ist die Situation in jedem Fall, aber vielleicht sogar noch etwas komplizierter als "nur" zwischen dem Hoffen auf einen Aufschub und dem Bangen vor der Hinrichtung. Die Häftlinge, die ich bis zum Schluss begleitet habe, waren innerlich bereit für ihren letzten Weg. Ich habe mich manchmal nicht getraut zuzugeben, dass der Gedanke an einen Hinrichtungsaufschub für mich nicht uneingeschränkt mit dem Hoffen darauf und einer Freude darüber verbunden war. Das wäre der Fall gewesen, wenn ein Aufschub einen echten Zeitgewinn gebracht hätte. Aber die Vorstellung, es könnte einen Hinrichtungsaufschub geben und der nächste Termin würde für wenige Wochen später angesetzt: Es würde bedeuten, dass alle – der Gefangene, aber auch seine Verwandten und Freunde – in kürzester Zeit ein weiteres Mal durch die psychische Hölle dieser Situation gehen müssten. Deswegen hatte ich bei dem Gedanken an einen Aufschub immer gemischte Gefühle.

Weihnachten in der Todeszelle

"Come, My Angel" von Eva-Maria Hermann, die ebenfalls Brieffreundschaften zu zum Tode verurteilten Häftlingen unterhält, spricht aus der Sicht des Todestraktinsassen darüber, wie er Weihnachten erlebt. Zusammen mit Wolfgang Zerbin (Piano) hat Gabi Uhl (Gesang) diesen Text auf die Melodie des Chorals "Sonne der Gerechtigkeit" vertont. Ein etwas anderes Weihnachtslied – das vielleicht näher an den Stall von Bethlehem führt als das Bild vom holden Knaben mit Wuschelkopf, der fröhlich in der Krippe gluckst.

Redaktion: Sie haben wiederholt davon gesprochen, dass Sie Freundschaften zu Todeskandidaten entwickelt haben. Nun darf die Todesstrafe in den USA nur bei vorsätzlichen Tötungsdelikten unter erschwerenden Tatumständen (z.B. Mord in Tateinheit oder Tatmehrheit mit einem beziehungsweise mehreren anderen Schwerverbrechen wie etwa Raub oder Vergewaltigung) verhängt werden. Wie kann man Sympathie, Freundschaft, möglicherweise sogar ein gewisses Maß an Zuneigung für Menschen entwickeln, die vorsätzlich getötet haben?

Gabi Uhl: Es ist für mich nicht vorstellbar, eine Freundschaft mit einem Täter einzugehen, der es nach wie vor für richtig hält, einen Menschen getötet zu haben, oder der am Ende noch stolz ist auf seine Tat. Ich wäre zwar auch in dem Fall gegen die Todesstrafe, aber eine Freundschaft eingehen könnte und wollte ich mit diesem Menschen sicher nicht. Ich möchte aber auch im "normalen" Leben nicht mit jedem befreundet sein – es gibt überall Menschen, die einem sympathisch sind, und andere, mit denen man aus gutem Grund keinen engeren Kontakt möchte. Was die Gefangenen betrifft: Ihre Straftat ist in aller Regel nicht das einzige, was sie als Menschen ausmacht. Es gibt immer ein VOR der Tat und ein NACH der Tat. Sympathie für einen Täter zu entwickeln, heißt auf keinen Fall, seine Tat zu verharmlosen oder auszublenden, zu entschuldigen oder sogar gutzuheißen. Man kann eine Straftat klar verurteilen, aber man muss deshalb nicht den Menschen als solches zum Monster oder zur Bestie degradieren – das wird der Vielschichtigkeit des Menschseins auch gar nicht gerecht.

Redaktion: Bei der Vorbereitung auf dieses Interview waren uns zwei Ihrer Brieffreunde besonders aufgefallen. Der erste ist Cliff Boggess, von dem auch die Zeichnung stammt, mit der dieser Beitrag illustriert ist. Er hatte zwei Ladenbesitzer bei Raubüberfällen getötet, darunter den 86-jährigen Inhaber eines Lebensmittelgeschäftes. Über Ihre erste Begegnung mit ihm schreiben Sie auf Ihrer Webseite: "Der Mensch, der uns dort begegnete, machte auf mich einen außerordentlich sanften und mitfühlenden Eindruck – kaum vorstellbar, dass dies derselbe Mann sein sollte, der elf Jahre zuvor auf brutale Weise zwei Menschen getötet hatte." Der andere ist Willie Trottie, über dessen Hinrichtung SpiegelTV 2014 berichtet hatte. Im Beitrag sieht man einen nett wirkenden Kerl, von dem man sich vorstellen kann, dass er einem unter anderen Umständen vielleicht bei Starbucks einen Smiley auf den Becher malen würde. Und der sagt dann plötzlich über seine Tat: "Auf dem Weg [aus dem Schlafzimmer] sah ich […] meinen Schwager. Ich wusste nicht, ob er tot war. Er fiel vom Flur ins Wohnzimmer. Und auf meinem Weg raus habe ich ihm in den Kopf geschossen." Wie hält man diese Spannung aus?

Gabi Uhl: Cliff Boggess war definitiv schuldig an zwei Raubüberfällen, bei denen er jeweils einen Mann getötet hatte. Dass der Cliff, den ich kennengelernt habe und von dem Mitgefangene berichteten, er habe sich eher von Wärtern zusammenschlagen lassen, als nochmals selbst Gewalt anzuwenden, ein anderer geworden war, davon bin ich überzeugt. Das hat er eindrucksvoll bis zu seiner Hinrichtung gelebt. Diese Spannung war und ist für mich deshalb auszuhalten, weil ich daran glaube, dass Menschen ihre Taten bereuen und sich ändern können – sogar ein Mörder. In Cliffs Fall war es seine Malerei, die ihn zunächst dazu führte, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, und der Glaube an Gott, zu dem er in den Jahren in der Todeszelle fand, die für seine Veränderung eine ursächliche Rolle spielten. Im Fall von Willie Trottie handelte es sich, seiner Version nach, um ein Familiendrama, in dem der Schwager zuerst auf ihn geschossen habe, worauf Willie das Feuer erwiderte (Notwehr), dann im Gerangel um die Waffe, die seine Schwägerin ihm zu entwenden versuchte, sich die Schüsse lösten, die seine Frau töteten (Unfall), und er schließlich aus Wut den letzten Schuss auf seinen leblos am Boden liegenden Schwager abgegeben habe (Tötung im Affekt). So schlimm das Ergebnis auch ist, das zwei Menschen tot hinterließ und dazu führte, dass Willies Sohn ohne Mutter aufwachsen musste und ihm 20 Jahre später auch noch der Vater genommen wurde – ich kann mir bösartigere und herzlosere Motivationen vorstellen, aus denen Menschen heraus schlimme Dinge tun, und mit denen ich weitaus mehr Probleme hätte, die entsprechende Spannung auszuhalten.

Redaktion: Über all die Jahre, in denen Sie Brieffreundschaften zu zum Tode verurteilten unterhalten, mussten Sie sich – zwangsläufig – auch mit den Taten dieser Brieffreunde befassen und in tiefe Abgründe schauen. Das tun die Leser und Zuschauer von Krimis und Thrillern auch – aber sie wissen zugleich, dass es fiktional ist. Sie können die Realität nicht wie ein Buch zuklappen und weglegen. Wie gehen Sie damit um, so direkt und real in die Geschehnisse einzutauchen?

Gabi Uhl: Ob es die zum Teil grausamen Verbrechen der zum Tod verurteilten Häftlinge sind oder ihre gewaltsame Tötung mittels der Hinrichtung – ich empfinde beides als das Schauen in tiefe Abgründe. Damit bereits seit 20 Jahren umzugehen und diese Belastung auszuhalten – ich denke, mir hilft dabei die Tatsache, dass ich schon früh im Leben gelernt habe, auf psychischer bzw. emotionaler Ebene gewisse Dinge nicht zu stark an mich heranzulassen, jedenfalls nicht zu jeder Zeit. Ich glaube, ich kann meine Gefühle stärker kontrollieren als manch anderer Mensch – zumindest wenn ich weiß, was auf mich zukommt, und ich innerlich vorbereitet bin. Mich stärker emotional auf die Abgründe einlassen, das gehört natürlich von Zeit zu Zeit auch dazu, aber ich fühle mich dem nicht ausgeliefert, weil ich diese dunklen Orte wieder verlassen kann.

Wenn Ihr Euch über Brieffreundschaften mit Gefangenen in Todestrakten informieren möchtet – und wir würden uns freuen, wenn zumindest einige von Euch diesen ersten Schritt machen würden –, dann findet Ihr auf der Webseite der Initiative gegen die Todesstrafe weitere Informationen.

Redaktion: Noch einmal zurück zu Cliff Boggess, der Ihnen am Tag seiner Hinrichtung vom Gefängnispfarrer ausrichten ließ, dass er noch am selben Tag bei Jesus im Paradies sein werde. Joseph Garcia, der am 4. Dezember diesen Jahres in Texas hingerichtet wurde, sagte als letzte Worte: "Lieber heiliger Vater, bitte vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun." Beide zitieren fast wörtlich das Lukas-Evangelium (Lk 23, 34 und 43). Können Sie verstehen, wenn Menschen das als schwer erträgliche Hybris, vielleicht sogar als blasphemisch auffassen?

Gabi Uhl: Ja, ich kann das verstehen. Ich habe selber schon gedacht, dass man diese Zitate dahingehend missverstehen könnte, dass sich Cliff Boggess oder Joseph Garcia hier mit Jesus vergleichen. Garcia habe ich nicht gekannt und kann es in seinem Fall nicht beurteilen. Aber bei Cliff bin ich mir ganz sicher, dass er sich nicht in der Rolle von Jesus gesehen hat. Er sah sich vielmehr in der Rolle des Verbrechers neben Jesus am Kreuz, der bereute und zu dem Jesus eben diese Worte sagte: "Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein." Jesus zu zitieren meint hier also nicht, sich als Jesus zu sehen, sondern einfach dessen Worte als passend zu übernehmen.

Redaktion: Wenn man sich, wie Sie, Menschen zuwendet, die schwerste Schuld auf sich geladen haben, aber nicht verurteilt, sondern versucht, den Menschen hinter der Tat zu sehen und das Gute in ihm zu finden, dann werden die neutestamentarischen Gedanken der Nächstenliebe und der Weitergabe der Vergebung, die Gott uns schenkt, an unsere Mitmenschen möglicherweise konsequenter gedacht und gelebt, als viele von uns das fertig bringen können und wollen. Denn in letzter Konsequenz führen diese Gedanken uns in Grenzbereiche, die schmerzen und uns geradezu unerträglich erscheinen. Der Pfarrer unserer Dompfarrei St. Bartholomäus, Stadtdekan Dr. Johannes zu Eltz, hat einmal in anderem Zusammenhang gesagt: "Das kommt direkt von Jesus, aus dieser Nummer kommen wir als Christen nicht heraus." Bedeutet Christsein, besonders schmerzresistent sein zu müssen?

Gabi Uhl: Ich wäre mir selbst, glaube ich, unheimlich, wenn ich bei dem Gedanken an die grausamen Verbrechen, die von der Mehrzahl der zum Tod verurteilten Menschen begangen wurden, keinen Schmerz empfinden würde. Uns Gegnern der Todesstrafe wird immer wieder unterstellt, wir würden nicht an die Opfer und Opferangehörigen denken. Empathie kann man aber für beide Seiten entwickeln, für die Opfer- UND die Täterseite. Auf beiden Seiten gibt es Angehörige, die massiv leiden – und aus diesem Grund vor allem bin ich gegen die Todesstrafe, weil sie in meinen Augen nur neues Leid erzeugt, ohne dass sie irgendeinen Gewinn bringt.

Von daher: besonders schmerzresistent als Christ, nein, vielleicht sogar eher im Gegenteil. Aber das Christsein fordert in besonderem Maße heraus, ja, das glaube ich schon. Wenn Christentum mehr bedeutet als Wohlfühlchristsein, dann müssen wir uns z.B. an der Bergpredigt reiben oder uns fragen, inwieweit wir die Botschaft Jesu von Liebe und Vergebung in ihrer ganzen Tragweite verstanden haben. Gehört dann nicht auch der Mörder als von Gott dennoch geliebt dazu? Und selbst wenn ich mir den nicht als Freund aussuchen mag – muss ich dann nicht wenigstens sein Recht auf Leben respektieren, wenn Jesus ihm sogar zu vergeben bereit ist?

Redaktion: Was geben Ihnen und was geben Ihren Brieffreunden diese Brieffreundschaften persönlich? Was haben Sie daraus für Ihr Leben und Ihren Glauben mitnehmen können?

Gabi Uhl: Für die Gefangenen sind die Brieffreunde häufig so etwas wie das Fenster zur Welt. Durch unsere Augen sehen und erleben sie viele Dinge mit, zu denen sie in ihrem eingeschränkten Leben keinen Zugang haben. Wichtig wird ihnen im Lauf der Zeit sicher auch die Beständigkeit, dass auf lange Sicht jemand für sie da ist, auf den sie sich verlassen können und der ihnen das Gefühl gibt, angenommen und akzeptiert zu sein – als Menschen und trotz ihrer Taten. Für mich habe ich aus meinen Kontakten mit Häftlingen im Todestrakt immer wieder das Staunen darüber mitgenommen, dass einige dieser Menschen in einer unglaublichen Weise in der Lage sind, sich über die kleinsten Dinge zu freuen – obwohl sie sich seit Jahren und Jahrzehnten in einer Situation befinden, von der ich glaube, dass ich sie keine vier Wochen aushalten würde. Ich habe bei vielen meiner Brieffreunde so viel Lebensbejahendes gefunden, dass ich umso dankbarer für mein Leben mit all seinen Möglichkeiten bin.

Redaktion: Liebe Frau Uhl, ganz herzlichen Dank für das Gespräch. Ihnen und allen, die Ihnen am Herzen liegen, wünschen wir gesegnete Weihnachten!

 

* "Morituri te salutant", lateinisch für "Die Todgeweihten grüßen dich!", oft fälschlich als Gruß römischer Gladiatoren beim Betreten der Arena verstanden, tatsächlich aber der Gruß von zum Tode verurteilten Sträflingen an Kaiser Claudius.

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